2017
Videostream, aus dem Ahrenshooper Holz, in dem vermutlich der Maler Alfred Partikel (*1888) am 20.Oktober 1945 spurlos verschwand.
Für Alfred Partikel als Landschaftsmaler war die Wahl des Ortes, wo er lebte, von großer Bedeutung. Die Flucht in Landschaften und ihre Details während der Ereignisse seiner Zeit, dem Faschismus und dem zweiten Weltkrieg, war schicksalshaft[1] und ebnete vielleicht sogar den Weg für sein Verschwinden im Wald.
Sehr geehrter Herr Dr. Passarge,
Mein Vater, der am 20.Okt. in den Wald zum Pilzesammeln gegangen ist, ist nicht wiedergekommen… Mutter hat mit Freunden und Leuten aus dem Dorf, den kleinen am Darß gelegenen Wald abgesucht. Eine Durchkämmung des Waldes durch das ganze Dorf wurde von den Russen verboten. – Sie haben nichts gefunden. – (…) (Barbara Partikel im November 1945)
In Ahrenshoop nach dem Krieg stationierte sowjetische Soldaten hatten Hunger und gingen jagen. Alfred Partikel hatte Appetit auf Pilze. Gemeinsam diente ihnen der Wald als Ressource, alle wollten möglicherweise zur selben Zeit etwas aus ihm herausholen.
Alfred Partikel hörte in Folge einer Kriegsverletzung schlecht. Das Ahrenshooper Holz ist jedoch voller subtiler Geräusche. Am lautesten sind die eigenen Schritte im raschelnden Buchenlaub. Die Schwerhörigkeit lässt die Wahrnehmung zerfallen. Das, was die Augen sehen, tritt in den Vordergrund; der akustische Raum verengt sich.
Der Wald ist ein wildes Gebilde, ein Mikrokosmos, in dem Wirklichkeit und Vorstellung sich begegnen. Die Arbeit inszeniert den Wald als Sehnsuchtsort und Idylle, als Drohkulisse, als Versteck, als geheimnisvollen, magischen, mystischen und ambivalenten Ort. Was sich der Kontrolle entzieht, verbirgt sich im Wald.
In einer Großstadt werden die meisten öffentlichen Plätze heute routinemäßig überwacht. Es hängt ab vom Blickfeld, von der Kadrierung, vom Zufall, was vor die Linsen gerät. Die Zeit kann man damit gewissermaßen zurückspulen, Ereignisse und Verbrechen lassen sich rekonstruieren, wenn man den Schlüssel zu ihrer Interpretation besitzt.
Die Wildnis ist der Gegenentwurf. Wir stoßen vor in das Waldinnere, an einen entrückten Ort. Auch hier gibt es Kameras, in Bereichen, in die der Mensch nicht vordringen kann oder sollte. Die Wildschweine sind unsichtbar unter dem fast zwei Meter hohen Farn, man riecht sie nur. Wildkameras liefern Einblicke in diese verborgenen Orte. Indem sie hierhin eine optische Brücke bilden, erzeugen sie die Anmutung eines unberührten Tatortes.
Der Wald ist undurchdringlich und unüberschaubar, er ist Naturschutzgebiet. Betreten, abseits des einzigen Weges, ist verboten. Seltsame, bereits im Realen surreal anmutende Orte im Wald werden in Szene gesetzt.
Fiktive Spuren durchwirken den realen Raum und verwischen die Grenzen.
Auf der Tonebene werden diese Aufnahmen mit fiktiven Ereignissen angereichert, die den Ort in seiner Vielschichtigkeit auffächern. Atmosphärische Geräusche aus dem Wald rahmen das Geschehen. Die Töne, die Alfred Partikel schlecht hören konnte, verweben sich zu einem Hintergrund, vor dem alle Ereignisse, reale und fiktive, gleichbedeutend nebeneinander stehen. Durch die Überlagerung von Fiktion und Realität auf der Bild- und Tonebene wird eine orts-und zeitbezogene Narration generiert, die den Ort des Verschwindens von Alfred Partikel in den Fokus rückt und in mehreren Dimensionen wirken lässt.
[1] Gerckens M.A., Rainer: Alfred Partikel, Leben und Werk, Dissertation, Universität Hamburg 1990, S.75ff (4.3. Fluchtraum Landschaft)
* Titel nach dem Gemälde Waldinneres von Alfred Partikel, um 1936, 160,2×116 cm, Kunstmuseum Ahrenshoop